»Hauskind oder Hortkind?«, will ein Lehrer von Mathias wissen, als der sich am Vormittag aus der Schule zu verdrücken gedenkt. Gerade heute ist der Junge neun geworden, und er will unbedingt nach Schönefeld, zum Flughafen. Sein Vater, ein profilierter Journalist und Fotoreporter, hatte dem Sohn zu dessen nächstem Geburtstag einen Rundflug in Aussicht gestellt – und ihm vorab schon mal ein Ikarus-Plakat geschenkt. Die Eltern sind seit kurzem geschieden. Die Mutter hat einen neuen Freund, den Mathias nicht mag. Der Junge sucht nach einem Halt, aber er verliert den Boden unter den Füßen: Der Vater hat sein leichtfertig gegebenes Versprechen schlicht vergessen. Von einem Polizisten aus Schönefeld nach Hause zurückgebracht, sieht Mathias den Vater am Geburtstagstisch, so als wäre nichts. Mitgebracht hat er, so glaubt er zumindest, eine ganz besondere Überraschung: eine elektrische Eisenbahn. Aber was für ein Absturz und welche Enttäuschung: Mathias starrt auf den irgendwie armseligen Schienenkreis, der da förmlich auf der Auslegware zu kleben scheint. Er hatte hinauf in die Wolken gewollt, jetzt soll er auf dem Boden rumkriechen, um mit der Lok zu spielen. Er stürzt aus der Wohnung und schleudert das geliebte Ikarus-Plakat vom Dach des Hauses in die Tiefe. Die Erwachsenen erzählen derweil von ihrer Arbeit.
Kein blauer, sondern ein grauer Himmel über Berlin: Die kleine DDR-Gesellschaft 1975. Ein großer Film.
Fotos: DEFA-Stiftung, Norbert Kuhröber
»Es ist eine sehr menschliche, sehr bedenkenswerte Geschichte, die hier erzählt wird. Und es mag sein, daß die in sie hineingetragene Ikarus-Symbolik eine Nummer zu groß dafür ist, es mag auch sein, daß einzelne Situationen mit zuviel optischem und musikalischem Pathos dargeboten werden, und auch, daß sich einzelne Episoden zu sehr verselbständigen, aber das ändert nichts an dem tiefen Eindruck, den die lautere Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit dieses Films hinterlassen. Und seine Aussage: Wir sollten achtsamer unseren Mitmenschen gegenüber sein. Hier ist es ein Kind, um das es sich handelt, und da wiegt eben alles auch noch besonders schwer.« Helmut Ullrich, Neue Zeit, Berlin/Ost (1975)
»Und mit den Augen eines Neunjährigen blicken wir auf uns selbst. Auf unsere Gedankenlosigkeit, auf Oberflächlichkeit, manchmal Gleichgültigkeit, auf das nicht Ernst-Nehmen des einmal Gesagten, auf unseren Egoismus, auf das schnelle alltägliche, oft leichtfertige Wort. Es ist das, was unseren Kindern jeden Tag begegnet. Vielleicht sogar auch die Szene in der Schule, wo ein Kind ›Selbstkritik‹ üben muß, die in Mathias' Bewußtsein so große Dimensionen angenommen hat, daß er in der Erinnerung daran seinen Namen nicht mehr sagt. Wie die ›Legende von Paul und Paula‹ eine Legende von der Liebe überhaupt ist, vom unbedingten, elementaren Liebesanspruch, gegen das Sich-Abfinden, so trägt der Ikarus-Film das Gleichnis der antiken Legenden in die Gegenwart. Ein Ikarus, der fliegen würde, wenn die Erwachsenen Obacht geben würden.«
Renate Seydel, Filmspiegel, Berlin/Ost (1975)
»Es geht um einen Neunjährigen und die Hoffnung auf die Erfüllung seiner Sehnsüchte. Ein Ikarus, der fliegen würde, wenn die Erwachsenen klug genug und sensibel genug seine Welt erfaßten. Einer von vielen [...] Realismus entsteht hier aus dem genau beobachteten und unretuschiert wiedergegebenen Detail. Und was der Regisseur an Ausdrucksreichtum bei seinem jungen Hauptdarsteller Peter Welz freizusetzen vermochte, ist ganz und gar erstaunlich.«
Günter Sobe, Berliner Zeitung, Berlin/Ost (1975)
»Schon nach wenigen Bildern (Szenarium Klaus Schlesinger) wächst der Wunsch, sich mit den Figuren des Films über ihr Verhalten auseinanderzusetzen, sich auszusprechen. Ähnliche Leute und Situationen kennt man [...] In dem Film werden Dinge des Alltags ernst genommen, wird beobachtet, wie sehr sie unser Leben bestimmen, geht es darum, auch scheinbar nebensächliche Handlungen In ihren Wirkungen zu verfolgen.«
Rolf Richter, Neues Deutschland, Berlin/Ost (1975)
»Vielleicht ist das das Wichtigste, das Schönste an diesem Film, daß er die Freundlichkeit, die Güte im Menschen mobilisiert [...] Immer steckt im poetischen Bild dringlicher Appell an sozialistische Menschlickeit [...] In der Tradition eines Slatan Dudow stehend, führt bei Carow eine greifbar genaue Abbildung der Wirklichkeit, sicht- und spürbar im kleinsten Detail der Straßen und Plätze, doch immer hinaus über bloßen Dokumentarismus. Vielleicht kann man sagen, er benutzte die geschaffene Authentizität als Sprungbrett für poetische Verdichtungen, für Symbole.«
Rosemarie Rehahn, Wochenpost, Berlin/Ost (1975)
»Carow hat mitunter eine fatale Neigung zu Manierismen, aber er bringt in seine Filme auch immer wieder eine entlarvende Offenheit ein, wie man sie so bei kaum einem anderen DEFA-Regisseur findet [...] So brutal-realistisch war die Wirklichkeit des Zusammenlebens von Menschen noch in keinem DEFA-Gegenwartsfilm zu sehen. Spontane, warme Menschlichkeit entsteht immer nur für kurze Augenblicke, durch väterliche Freunde, die sich des kleinen Mathias’ annehmen, der Brigadier auf der Baustelle, der Zeitungsredakteur und Kollege des Vaters, ein Kriminalbeamter. Der Rest ist fratzenhafte, menschenfeindliche Umwelt [...] Schade, daß die filmischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft wurden; Kameraführung und Schnitt sind unbefriedigend, einen graust die schmalzige Musik. Und dem Schluß merkt man an, daß er, aufgesetzt positiv, von Gott weiß wem angeordnet wurde, weil es doch nicht angehen darf, daß ein Kind in der sozialistischen Gesellschaft Schaden nimmt.«
Manfred Rieger, RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor), Berlin/West (1975)
»Ich weiß heute, daß sich ein Filmregisseur, wenn er etwas erreichen will, durch eine ganz besondere Tugend auszeichnen muß, nämlich: kollosal sensibel und zugleich robust wie ein Schlächter zu sein. ›Film‹ ist meine Art geworden, mich mit dem Leben auseinanderzusetzen - ein ewiges Frage- und Antwortspiel, und nicht selten bewegen mich Fragen, wie ich sie dann auch in Filme einbringe, die ich partout selbst nicht beantworten konnte. Vielleicht, daß ein anderer, ein Zuschauer, die Antwort weiß und sie unter die Leute bringt.« aus einem Gespräch, das Günter Sobe mit Heiner Carow führte, Berliner Zeitung, Berlin/Ost (1979)