»Wir nähern uns der Sonne«, ruft die sechsjährige Iris ihren beiden Cousins zu. Sie tobt mit den Zwillingen in einem alten Citroën 2CV herum. Die grüne ›Ente‹ dient den dreien als Raumschiff, das sie ins Weltall bringt. Bald darauf greift eine Baggerschaufel nach dem Autowrack, um es zu entsorgen. Empört laufen die Kinder nach Hause. Aber auch dort, auf dem Bauernhof im Westen Kataloniens, sind die Gemüter erhitzt. Die Nerven der Erwachsenen liegen blank. Es fehlt ein schriftlicher Vertrag, der ihren Grund und Boden verbrieft. Der Großvater hatte vor vielen Jahrzehnten den Erwerb des Landstücks per Handschlag besiegelt, doch an den fühlen sich die Erben des früheren Besitzers nicht mehr gebunden. Sie haben ganz andere Pläne: Die Pfirsichplantage steht für die Vergangenheit, Photovoltaik für die Zukunft. Für drei Generationen der Großfamilie Solé, für 13 Personen von den Kindern bis zum Greis, wird es wohl der letzte Sommer und die letzte Ernte hier werden. Die Sonne und der Fortschritt nähern sich ihnen in Form von Solarpaneelen. Ihr bisheriges Leben gerät aus den Fugen. Es geht um ihre Identität und um ihre Heimat, es geht ums Bewahren und Sich-Verändern. Wie ihnen das gelingt, beim Ernten und beim Feiern, zwischen Hoffnung
und Enttäuschung, in Streit und Versöhnung, ist ein großes menschliches Schau-Spiel.
Ein sonnendurchfluteter, herzerwärmender Film.
Fotos: Lluís Tudela/Piffl Medien, Berlin
»Der Film erzählt nicht nur eine Familiengeschichte, sondern greift exemplarisch einen gesellschaftlichen Konflikt auf, der in Spanien immer größere Ausmaße annimmt, nämlich den zwischen kleinbäuerlicher Landwirtschaft und dem Flächenbedarf der Solar- und Windparks. Die Situation ist nicht zuletzt deshalb dramatisch, weil das Agrarland in Spanien extrem ungleich verteilt ist: 51.000 Personen besitzen laut Zahlen des Nationalen Statistikamts Spaniens über neun Millionen Hektar Land; das ist mehr als die Hälfte des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens […]Die Familie in ›Alcarràs‹ stimmt ein bekanntes Lied des republikanischen Spaniens an, dass sich gegen die Großgrundbesitzer richtet und das Recht der Kleinbauern einfordert, selbst Land zu bewirtschaften. Dabei inszeniert der Film weder ein ländliches Idyll, noch idealisiert er die ländliche Solarwirtschaft, wie viele Linke es tun.«
Gaston Kirsche, Jungle.World, Berlin
»Einem jungen Publikum ab etwa 12 Jahren ist dieser mit dem ›Goldenen Bären‹ preisgekrönte Film zu empfehlen, weil er zum Teil unmittelbar aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen eine Familiensaga in den Mittelpunkt stellt. Genauso interessant ist aber auch das zweite große Thema der tiefgreifenden Veränderungen in der Landwirtschaft vor dem Hintergrund der Globalisierung und des Klimawandels, die Jung und Alt gleichermaßen betreffen.«
Holger Twele, kinder-jugend-filmportal.de, Remscheid
»Die Generationenkonflikte um Traditionen und Modernisierung, Kapitalismus und Moral, die zwischen Großvater und Vater Solé, Onkeln und Tanten und den jüngeren Familienmitgliedern aufbrechen, stehen stellvertretend für viele Familien in vielen ländlichen Regionen der Welt, die um ihre Existenz und gegen Dumpingpreise kämpfen – und die nicht selten ihre landwirtschaftlichen Traditionsbetriebe aufgeben müssen.«
Stefanie Borowsky, berliner-filmfestivals.de
»Carla Simón hat ein sehr genaues Gespür für die Nöte der Bauern, die gesellschaftlichen Veränderungen und die Interessenskonflikte zwischen traditioneller Landwirtschaft und neuer regenerativer Energieerzeugung. Am Ende rücken in Alcarràs die Bagger an. Die Solés müssen mitansehen, wie ihre Pfirsichbüsche aus dem Boden gerissen werden. Das sind bedrückende Bilder, denen man sich nicht entziehen kann. Ein wunderschöner, trauriger und sehr echter Heimatfilm.«
Krischan Koch, NDRkultur, Hamburg
»Die Regisseurin zeigt Familie weniger als festen Stamm, eher als flexibles Netz. Dass die hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspieler Laien sind, bewahrt den Film vor jeglicher Art von Dramatisierung. Sie spielen ihre Figuren nicht, sondern halten vielmehr ihre Gesichter der Sonne entgegen, die auf ihnen abprallt und zeigt, wer sie sind: Menschen aus der Region, die für Simóns Film zu einer Wahlfamilie zusammenkommen. Sie leihen den Figuren auch ihre Sprache: einen Dialekt, der nur hier gesprochen wird. Die Kamera webt sie zusammen, ebenso wie die sich immer weiter entfaltende, außerhalb des Bildrandes neugierig fortgeführte Wirklichkeit.«
Philipp Stadelmaier, Süddeutsche Zeitung, München
»Simón hat ihre Darsteller trainiert, bis sie mit ihren Rollen verschmolzen. Diese Identifikation ist das erzählerische Geheimnis von ›Alcarràs‹. Das ästhetische Geheimnis des Films besteht darin, dass die Kamera ihren Blick aus der Ansichts- in die Innenperspektive verschiebt […] Der Film betrachtet die wie mit dem Lineal gezogenen Pfirsichbaumreihen stets auf Augenhöhe mit jenen, die sie bearbeiten, nie mit dem Drohnenblick von oben. Nur so erfahren wir, was es bedeutet, wenn schließlich die Bagger anrücken. Der Abschluss der Ernte ist das Ende einer Welt.«
Andreas Kilb, Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Auch in der erzählerischen Entscheidung, die Plantage einem fortschrittlichen Solarpark und eben keinem Golfplatz oder einem Luxushotel weichen zu lassen, liegt eine subtile Botschaft. Simón erinnert uns ohne selbst zu werten daran, dass die erneuerbaren, emissionsfreien Energien Platz brauchen und Menschen unter dem notwendigen Strukturwandel leiden werden. Für individuell Betroffene wie die fiktiven Solés spielt es keine Rolle, ob ihr Zuhause Solarpaneelen oder einem Braunkohletagebau weichen muss. Simóns Film ist so auch ein Statement dafür, dass es ein Happy End, mit dem alle glücklich sind, nicht geben kann.«
Maxi Braun, epd film, Frankfurt/Main
»Dass bei Simón nicht einmal mehr die Zukunft der Familie Hoffnung spendet, ist vielleicht das Dramatischste an ›Alcarràs‹. Wobei sich dieses Drama in den Filmen der katalanischen Regisseurin erst behutsam herausschält, kaum offen hervortritt. Im klassischen Sinne dramatisiert wird kaum: Konflikte laufen meist aneinander vorbei, prallen nicht gewaltsam aufeinander, bleiben unbeantwortet. Den Wandel verkörpert kein rücksichtsloser Industriekapitalist, sondern der Sohn einer befreundeten Familie, der im gesellschaftlichen Wandel auch nicht unter die Räder kommen mag. Der Sommer und die sonnendurchfluteten Bilder des Films suchen keine Extreme, wollen weder mit flirrender Fieberhaftigkeit elektrisieren, noch die hitzebedingte Paralyse der Hundstage beschwören: Kein Überschuss an Bewegung, aber eben auch kein Stillstand.«
Jonas Nestroy, perlentaucher.de, Berlin