»Zusammengefaltet im Strumpfhosenbund.« So kurz und so einfach ist die Antwort auf die Frage des FBI-Agenten, wie sie das geheime Dokument aus der Behörde rausgekriegt habe. In ihrem Gedächtnis blitzt jener Moment vom 9. Mai 2017 noch einmal auf, dann hallt schon die nächste FBI-Frage in ihrem Kopf. Was sie damit gemacht habe? Nun, Reality Winner hat es ganz simpel in einen Umschlag gesteckt, die Adresse von »The Intercept« in New York draufgeschrieben, mit einer Briefmarke versehen und in den blauen Postkasten auf einem Parkplatz geworfen. »The Intercept« ist ein journalistisches Online-Portal, das sich auf seine Fahnen geschrieben hat, Korruption und Ungerechtigkeit aufzudecken, wo immer sie zu finden sind – und heißt Whistleblower herzlich willkommen. Reality Winner übersetzt für einen Dienstleister der NSA Texte von Farsi ins Englische. Sie möchte in der Air Force Karriere machen, rechnet sich gute Chancen aus, weil sie auch Dari und Paschtu spricht, ideal für die Aufklärung im Nahen Osten. Was also war der Grund, dies alles aufs Spiel zu setzen und eine Verschlusssache zu leaken, die den bestrittenen russischen Einfluss auf die US-Präsidentschaftswahlen belegt? Genau das möchten die beiden FBI-Agenten herausfinden In einem Verhör, das knapp anderthalb Stunden dauert und beginnt wie ein Smalltalk über Hunde, Haus und Sport. Schon da steht Reality mit dem Rücken an der Wand, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich das Netz zusammenzieht. Reality Winner wurde zu 5 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilt. Ihre Bewährung gilt noch bis November 2024.
Ein Psycho-Polit-Thriller: ganz ohne äußere Action, aber an innerer Spannung nicht zu überbieten.
Fotos: Grandfilm GmbH Filmverleih, Nürnberg
»Man schaut sich ›Reality‹ verunsichert an. Abgebildet wird ein US-amerikanisches Trauma, festgehalten auf medialen Bildern während der Regentschaft von Donald Trump. Die erschütterten Werte des US-amerikanischen Selbstverständnisses treten als Störungen, als Verzögerungen, als Nicht-Zusammenpassendes hervor. Als Kommentar auf eine mediale Lage, in der Wirklichkeiten erschaffen statt abgebildet werden, ist das durchaus produktiv. Man beginnt paradoxerweise den Bildern zu trauen, wenn sie zugeben, dass sie lügen. Schon seltsam, wenn man auf diese Weise darüber nachdenkt. Gerade weil der Film auf der Wirklichkeit basiert, bleibt er völlig unberechenbar.«
Patrick Holzapfel, filmdienst.de, Bonn
»Eindrücklich thematisiert ›Reality‹ einschüchternde Mechanismen rechtsstaatlicher Macht. ›Ich zwinge Sie zu nichts, aber denken Sie nach‹, heißt es einmal. Was unter diesen Bedingungen überhaupt noch freiwillig sein kann, ist eine Frage, die der Film stellt. Obwohl Satter nicht den Fehler begeht, Reality Winner als große Märtyrerin mit weltpolitischem Kalkül zu inszenieren, sind die Sympathien im Film doch klar verteilt. Man fiebert mit der mimisch vielseitig von Sweeney gespielten Frau, die ... am Filmende mit einem Satz zitiert wird, an dem sich die gesamte Diskussion um die poröse Grenze zwischen Geheimhaltung und (journalistischer) Aufklärung manifestiert: ›Ich wusste, dass es geheim war. Aber ich wusste auch, dass ich geschworen habe, dem amerikanischen Volk zu dienen‹.«
Jens Balkenborg, faz.net, Frankfurt/Main
»Zielt über diesen Einzelfall hinaus auf große Fragen: Was darf die Regierung der Öffentlichkeit vorenthalten? Wie viel staatliche Überwachung ist legitim? Wo verläuft die Linie zwischen nationaler Sicherheit und öffentlichem Interesse? Verpackt als realitätsnaher Thriller, kommt Satters Dokudrama mit Blick auf die bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen 2024 gerade zur rechten Zeit.«
Pamela Jahn, kunst+film, Kassel/Berlin
»Die Kamera unterstreicht die Kräfteverhältnisse des Verhörs dadurch, dass sie Reality immer wieder aus leichter Ober- und die Ermittler aus der Unterperspektive zeigt. Von der stark spielenden Sydney Sweeney gibt es häufig Close-ups, in denen Realitys wachsende Anspannung und Verzweiflung greifbar wird. Zudem werden originale Fotos und Instagram-Posts von Winner sowie Ausschnitte aus Fernsehsendungen der damaligen Zeit eingeblendet, wodurch der Film auf die realen Ereignisse verweist und Reality als Persönlichkeit näherbringt, die gern Sport macht, Tiere liebt und reist [...] Trotz deutlicher Sympathien für seine Hauptfigur überlässt ›Reality‹ es den Zuschauer:innen, sich ein eigenes Urteil zu den Ereignissen zu bilden.«
Jannek Suhr, epd film, Frankfurt/Main
»Alles dreht sich um Positionen im Raum, um Körpersprache und Gesten. Der eine Agent ist ein sich zugänglich gebender Beamtenspießer, sein durchtrainierter Pokerface-Kollege hält sich im Hintergrund, mit klarer Aufgabenverteilung drängen sie die Befragte buchstäblich an die Wand. Das Gesicht der Hauptdarstellerin Sydney Sweeney wird dabei zum Ereignis: ein Bewegungsbild, in das sich ihre zunehmende Destabilisierung hineinzeichnet.«
Esther Buss, Der Tagesspiegel, Berlin
»Auf der Tonspur hält sich Satter dafür penibel an die Transkripte des realen FBI-Verhörs, die auch regelmäßig eingeblendet werden. Banalitäten wie ein Husten lässt sie dabei ebenso wenig aus wie geschwärzte Stellen: Wurde im Protokoll ein Satz unkenntlich gemacht, setzt der Dialog aus und die sprechende Person wird im Film für einen kurzen Moment unsichtbar. Stilistisch ist das gewöhnungsbedürftig, unterstreicht aber den dokumentarischen Charakter. Diesem strengen Duktus folgt die Regisseurin allerdings nicht in letzter Konsequenz: In kurzen Rückblenden streut Satter nicht nur reale Instagram-Posts und Ausschnitte aus Talkshows, sondern auch fiktive Momente ein, deren Details nicht oder nur zum Teil aus den FBI-Protokollen hervorgehen.«
Lars-Christian Daniels, filmstarts.de, Berlin
»Doch das Wichtige wird zur Leerstelle: Der Film bricht schließlich komplett mit seiner Objektivität, indem er das ›Drehbuch‹ – oder Dokument – ernst nimmt. Die inhaltlich relevanten Passagen darin sind geschwärzt, immer wieder stößt der Film in diesen Passagen an Dead Ends, dann setzt ein Dröhnen ein, Bildstörungen lassen Figuren schlagartig verschwinden und wieder auftauchen. Wie die klassifizierten Dokumente, die Winner in der Reality geleakt hat, nicht für alle bestimmt waren, so sind es auch Passagen des FBI-Dokuments nicht, damit auch nicht die entsprechenden Passagen des Films, der in diesen Momenten mit der Illusion einer kohärenten, gar ›wahren‹ Wiedergabe bricht.«
Anton Schroeder, critic.de, Berlin
»Ob man ihr Handeln nun gutheißen oder verurteilen möge, während der Sichtung des Films kommt man als Zuschauer nicht umhin, Sympathien für die junge Frau zu entwickeln. Denn eines wird klar: Sie tat es nicht, um in irgendeiner Form berühmt zu werden – sie tat es ausschließlich aus Gewissensgründen. 2018 wurde Winner übrigens zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, nachdem sie sich als schuldig bekannt hatte. Im Juni 2021 wurde sie wegen guter Führung vorzeitig entlassen, muss aber noch bis November 2024 eine elektronische Fußfessel tragen. Und das, obwohl ein Whistleblower-Anwalt das von Winner geleakte Dokument zwar als geheim einstuft, es jedoch keine Enthüllungen über Betrug, Verschwendung oder Missbrauch enthält und ebenso wenig irgendwelche Informationen zu gesetzwidrigen Handlungen der US-Regierung.«
Michael Spangenberg, nochnfilm.de, Hamburg