Ganz normal anders
Schon zu Zeiten, als das Wort Inklusion noch nicht in aller Munde war, hat FILMERNST bereits inklusive Filmbildung im inklusiven Lernort Kino praktiziert. Im Folgenden einige der Filme und Höhepunkte.
Einer der allerersten Filme, die wir in einem Sonderprogramm gezeigt haben, war:
»Gran Paradiso – Das Abenteuer Mensch zu sein«
Die Schauspielerin Antje Westermann war unser Gast im Potsdamer Filmmuseum und berichtete von den Dreharbeiten und ihrer Rolle, von der es im von Georg Heinzen geschriebenen Drehbuch heißt: »Rosi ist zwar schon erwachsen, aber einfältig wie ein kleines Kind.« Antje Westermann erhielt für ihre darstellerische Leistung den Deutschen Filmpreis in Gold.
Der Film »Gran Paradiso« (Deutschland 2000, Regie: Miguel Alexandre) erzählt von dem kühnen Unterfangen, einen verbitterten Querschnittsgelähmten auf den Gipfel eines Viertausenders zu bringen – in einer gemeinsamen Expedition mit drei Knackis und zwei geistig Behinderten. Extreme körperliche und seelische Strapazen machen die Tour für jeden einzelnen zur Tortur. Am Ende, als der Berg bezwungen ist, sagt der Held im Rollstuhl: »Ich hätte nie geglaubt, jemals höher zu steigen als auf das Dach der Winterhuder Anstalten. Erst recht nicht auf den Gran Paradiso. Und ich hätte nie geglaubt, daß ich Freunde finden würde, die mir helfen, ins wirkliche Leben zurückzukehren ...«
»Trau bloß keinem Gucki!«
Mit diesem Satz bringt in »Die Blindgänger« ein blindes Mädchen ihre Erfahrungen mit den Sehenden auf den Punkt. Ein Spielfilm über blinde Kinder mit blinden Kindern in den Hauptrollen. Als bester Kinder- und Jugendfilm 2004 bekam Bernd Sahlings Spielfilmdebüt den Deutschen Filmpreis in Gold. Mit großer Sensibilität und heiterer Lakonie erzählt er vom (fast) gewöhnlichen Alltag blinder Kinder. Die Geschichte über die allererste Liebe und das Erwachsenwerden beeindruckt in ihrer emotionalen Kraft und wirkt darüber hinaus als einfühlsames Plädoyer für den Mut, den eigenen Weg zu gehen.
FILMERNST hat den »Guckis« viel zugetraut, »Die Blindgänger« ins Programm genommen, in vielen Vorführungen viele Sehende ins Kino geholt und ihnen die Augen für eine Welt geöffnet, die sie bisher so nicht gesehen haben.
Null Bock auf ›Behindis‹
60 Tage Sozialdienst in einer Behinderten WG. Schlimmer hätte die Strafe für Kroko nicht ausfallen können. Mit ›Spastis‹ hat sie absolut nichts im Sinn; zur barmherzigen Samariterin fehlt ihr so gut wie alles.
Kroko macht auch jetzt, was sie am besten kann: abhängen, rummotzen, querschießen. Die ›Behindis‹ aber schießen zurück und geben auf Krokos Null-Bock-Spiel ein überraschendes Kontra. Die Pflegefälle sind mindestens ebenso widerspenstig, eigensinnig und ausgeflippt wie ihre missmutige Pflegerin.
Der mit dem Deutschen Filmpreis in Silber ausgezeichnete Film über die sich wandelnden Beziehungen zwischen der rabiaten Rabauke Kroko und den widerborstig-individualistischen Behinderten gehört zu den FILMERNST-Publikumsfavoriten. Zahlreiche und immer wieder beeindruckende Veranstaltungen mit der Regisseurin Sylke Enders, die stets mit Nachdruck und Temperament das jugendliche Publikum zu eigenen Meinungen und Haltungen herauszufordern weiß. Professionell, souverän und sehr erfrischend bei zwei FILMERNST-Gesprächen: Jonny Chambilla und Heidi Bruck vom Berliner THIKWA-Theater als Darsteller der Behinderten-WG. »Dank Filmernst«, hieß es in einem Beitrag in den »Potsdamer Neuesten Nachrichten« erhält der in den Kinos des Landes Brandenburg kaum gelaufene Film »nun ein zweite, dritte, vierte Chance«. Zählt man die »Kroko«-Vorführungen bei FILMERNST zusammen, dann sind es mittlerweile schon 30 Chancen geworden.
Die Kunst sprechender Hände
Schülerinnen und Schüler der Potsdamer »Wilhelm-von-Türk-Schule« für Hörgeschädigte erlebten »Die Boxerin« in einer ganz besonderen Vorführung Dass die auch technisch nicht ganz einfache Veranstaltung im Filmmuseum ein voller Erfolg wurde, war vor allem der Gebärdensprachdolmetscherin Jana Steinkraus zu verdanken. Mit Leidenschaft und Akribie meisterte sie die simultane ›Übersetzung‹ der Dialoge und die anschließende Diskussion mit der Regisseurin Catarina Deus. Am meisten zu denken gab wohl allen die Frage, ob filmische Mitwirkung und Rollen nicht auch für Hörgeschädigte vorstellbar wären.
Rückwärtslaufen kann ich auch ...
... wäre ein gutes Motto für einen ganz besonderen Kinotag im Bad Belziger »Hofgarten« gewesen. Die Kooperation zwischen FILMERNST und dem Schulförderverein der Schule »Am Grünen Grund« präsentierte im Herbst 2008 ein vielfältiges Programm zum Thema »Leben mit Behinderungen«. Filme anschauen, darüber sprechen, weitere Anstöße geben, Berührungsängste abbauen: Darum ging es an diesem Tag, der für rund 500 Schülerinnen und Schüler − Behinderte und Nichtbehinderte − zum Erlebnis wurde. Das Angebot reichte vom Bilderbuchkino für die Jüngsten über die DEFA-Produktion »Rückwärtslaufen kann ich auch« und die vielfach ausgezeichneten »Die Blindgänger« bis zu »Kroko« und »Jenseits der Stille«.
Die Moderationen und Spiele, die Gespräche und Gedanken im Anschluss an die acht Vorführungen vertieften das Gesehene und ließen die Eindrücke nachwirken. Bei allen Filmen spielte die Frage nach dem Happy End eine große Rolle. Ein offener Ausgang zum eigenen Weiterdenken war bei fast allen Zuschauern weit weniger beliebt als ein wirklich glücklicher Schluss. Dass die »Kroko«-Regisseurin Sylke Enders, die dem sehr wissbegierigen Publikum lange und lebhaft von der Filmarbeit berichtete, etwas anderer Meinung war, versteht sich ... Aber auch dieses Pro und Kontra war für Bad Belzig und diesen Tag ein Happy End!
Nerv getroffen
Einer der erfolgreichsten – und noch immer stark nachgefragten – Filme im FILMERNST-Programm ist »Ben X«. Der bei der Berlinale 2009 gefeierte belgische Film über einen autistischen jungen Mann und dessen Fluchten in die virtuelle Welt eines Computerspiels traf und trifft bei vielen jugendlichen Zuschauern einen Nerv.
Im »Weltspiegel« Finsterwalde beispielsweise – mit 180 Schülerinnen und Schülern vom OSZ Elbe-Elster – führte »Ben X« zu einem intensiven Gedankenaustausch mit FILMERNST-Moderator Sven-Ole Knuth: Wie ist es und wie lange hält man es aus, tagtäglich von seinen Mitschülern gedemütigt, drangsaliert und im wahrsten Sinne des Wortes bloßgestellt zu werden? Welche Wege sind versperrt, welche Auswege möglich, damit Verzweiflung nicht endet mit: Game over!
Viele Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Der Film aber, so die überwiegende Meinung, regt zum weiteren Nachdenken an über den Umgang der Gesellschaft mit Außenseitern, mit Menschen, die anders sind als der Durchschnitt.
Wer will schon normal sein?
»Es una película que hace pensar sin dejar de ser divertida posicionándose contra prejuicios e intolerancia«, hieß es in unserem Flyer, mit dem wir für die CineFiesta 2011 für »Yo, también« warben. Auf Deutsch: Ein temperamentvoller, nachdenklich-heiterer Film gegen Vorurteile und Intoleranz. In der männlichen Hauptrolle ist Pablo Pineda zu erleben, der als erster Europäer mit Down-Syndrom 2004 in Spanien einen Hochschulabschluss in Psychologie und Pädagogik erreicht hat. Die Film-Geschichte erzählt, wie sich zwischen Daniel und Laura, die beide in der Stadtverwaltung arbeiten, eine intensive Freundschaft und dann auch Liebe entwickelt. Bei Freunden, Kollegen, selbst der Familie werden alte Vorbehalte wach. Eine Beziehung wie diese ist für sie unvorstellbar. Aber auch Laura fragt sich: »Warum gerade ich?« Daniels Antwort sagt alles: »Weil du mir das Gefühl gibst, normal zu sein.« Ein bewegender, berührender Film, der Vorurteilen, Ressentiments und eingefahrene Verhaltensweisen keine Chance gibt.
Reit, wenn du kannst!
Kann und darf jemand, der querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt, an Liebe und Sex denken? Für eine wie ihn habe sich die Sache erledigt, würde Ben zu seinem Zivi sagen und seine Meinung noch mit einem super-zynischen Spruch bekräftigen. Natürlich verliebt er sich – und natürlich wird er auch Sex haben wollen. Der von Dietrich Brüggemann inszenierte Film »Renn, wenn du kannst« wurde von der Kritik fast einhellig gelobt: Er lege die Latte für Filme, die Menschen mit Behinderungen als Protagonisten haben, sehr hoch, auch verzichte er vollkommen auf die sonst übliche »Samthandschuhmentalität«. Gemeinsam mit seiner Schwester Anna Brüggemann, die im Film die weibliche Hauptrolle spielt, hat der Regisseur das Drehbuch geschrieben. Inspiriert von persönlichen Erfahrungen mit dem Thema, wollten sie manches gerade oder erst mal ins Licht rücken. Das ist ihnen eindrucksvoll gelungen.
Während der SchulKinoWochen 2012 im Land Brandenburg brachte es der Film auf 18 Vorführungen mit insgesamt 1.500 Besuchern. Bei zwei Veranstaltungen war eine Rollstuhlfahrerin zu Gast, die zwar nicht rennen, aber reiten kann: Nora Kristina Hamann vom Rolli-Reiterhof Radensleben bei Neuruppin berichtete von ihren alltäglichen und die sportlichen Herausforderungen und Höchstleistungen. Den Film fand sie sehr gelungen: »Robert Gwisdek in der Hauptrolle hat die Behinderung exzellent gespielt.« Sie, die nach einem Unfall seit sechs Jahren selbst im Rollstuhl sitzt, kann das auch deshalb beurteilen, weil sie über medizinisches Vorwissen verfügt: Vor ihrem Unfall war sie Krankenschwester, fuhr mit im Rettungswagen. Es dauerte zwei Jahre, bis sie nach dem Unfall wieder Mut fand und auch wieder ihren Sport, Reiten, aufnahm. Natürlich unter völlig veränderten Bedingungen. Davon berichtete sie dem Publikum – und auch davon, wo und wie sie im täglichen Leben Barrieren begegnet, wann Hilfe willkommen ist – wenn und wann übertriebenes Mitgefühl stört. Die Handicap-Reiterin trainiert jetzt für die nächste Europameisterschaft und die Paralympics 2016 in Rio.
Wo hat das Weltall sein Ende?
»Also, ich hab‘ jetzt schon Fragen, die man nicht so leicht beantworten kann«, sagt der vielseitig begabte David und möchte zum Beispiel wissen: »Wo hat das Weltall sein Ende, weil ich kann mir nicht vorstellen, dass es immer weiter geht.« Mit der Inklusion in den Schulen wurde gerade erst begonnen, und es muss noch sehr viel weiter- und vorangehen. Aus Hella Wenders‘ Langzeitbeobachtung »Berg Fidel – Eine Schule für alle« – ergab sich unser bislang wichtigstes und umfangreichstes Inklusions-Projekt: eine 11-Stationen-Tour durch das Land Brandenburg: Filmvorführung und Gespräche zum Thema Inklusion, ausgeschrieben als Lehrerfortbildung, aber offen für alle.
Die Resonanz nach der »Berg Fidel«-Vorführung im Kino »Capitol« in Königs Wusterhausen zeigte besonders viel Verständnis, Ermutigung und Zuspruch für die Verwirklichung der gesellschaftlichen Herausforderung Inklusion. Zu Gast auch Maren Wernitzsch, Mutter einer neunjährigen Tochter mit Down-Syndrom, die engagiert ihre Bibliothek mit Büchern zum Thema vorstellte – und uns anschließend eine Mail schrieb: »Das e-Moll von Davids ›Schiffsreise‹ klang in mir unerwartet, recht heftig und lange nach. Die Erkenntnis, dass dieser Kampf vor allem der Eltern um die Rechte der Kinder, die in keine DIN-Norm passen, scheinbar niemals endet, kam mir, obwohl bekannt, bitter hoch und überschattete die Dinge, die ich aus diesem Film mitnehmen konnte. Mit einem Blues im Kopf war es für mich schwer, unsere Bibliothek schwungvoll vorzustellen ... Ich wünsche Ihnen für die letzte, am Welt-Down-Syndrom-Tag stattfindende Filmvorführung ein volles Haus mit vielen Menschen, die (nicht nur) für Inklusion frei sind im Kopf. Danke für Ihre Unterstützung!«
Die Kunst, sich die Schuhe zu binden
Klettverschlüsse sind eine geniale Erfindung. Warum also soll man mühsam lernen, Schnürsenkel zu Schleifen zu binden? Alex will das nicht in den Kopf, wie so vieles andere nicht, was er als Betreuer in einer Tageseinrichtung für Menschen mit kognitiver Behinderung erlebt. Wo Ordnung, Struktur und Kontinuität als oberste Prinzipien gelten, versucht der Theater-Schauspieler ohne Engagement lieber ein wenig Un-Ordnung, Chaos und Spontaneität ins Leben seiner Schützlinge zu bringen. Warum sie nicht spielerisch auf das orientieren, worauf sie Lust und wofür sie Talent haben? »Behindert ist man nicht, behindert wird man«, ermutigt er sie zur Selbstständigkeit, gründet eine Theater- und Gesangsgruppe und meldet sie sogleich bei der Castingshow »Schweden sucht den Superstar« an. Frei nach einer wahren Geschichte über das schwedische Behinderten-Theater »Glada Hudik« und dessen Gründer Pär Johansson. David Ensikat schreibt im Berliner »Tagesspiegel« über die sechs Glada-Hudik-Schauspieler im Film: »Es sind schöne Menschen, die sich manchmal dämlich anstellen, aber wer tut das nicht?«